Gestern endete die Kunst

Mini Symposium Social Software Künste im Kunstraum multi.trudi mit Kurd Alsleben und Antje Eske. Mai 2009

Ich habe kürzlich vier Fragen formuliert, die meine Beziehung zur Kunst deutlich machen:

1) Wie kann die Kunst nur sie selbst sein und nichts anderes? Also weder ein Objekt der Kolonisation (durch Wirtschaft, Sponsoring, wohlmeinende Förderer), noch selbst kolonisierende (Politik, Gesellschaft, Randgruppen etc.)?

2) Wie kann der Rezipient aus seiner passiven Rolle befreit und Mitarbeiter (am Kunstwerk) werden? Im Sinne von Kurd Alslebens "Ich weiss allein nicht weiter" fasst das ebenso eine Umdeutung des Künstlers, der Künstlerin mit ein.

3) Wie kann das vorherrschende Paradigma der Ausstellungskunst überwunden werden? Was wäre, wenn es keine Ausstellungen mehr gäbe?

4) Was wäre, wenn die Kunst in ihrer jetzigen Form aufhörte zu existieren?

Ich glaube, daß der zweite Punkt in etwa das trifft, was Kurd Alsleben mit dem Begriff Mutualität ins Spiel gebracht, nämlich das Verhältnis zwischen Produzent und Rezipient in der modernen Kunst. Die übrigen umkreisen das Thema wie Trabanten in einer lockeren Flugbahn.

Mutualität ist im Gegensatz zum Englischen im Deutschen eher ungebräuchlich und in seiner Bedeutung vage, eignet sich daher trefflich den vielfältigen Verzweigungen des Problemfeldes nachzuspüren.

Übersetzungen wie 'Gegenseitigkeit' oder 'Wechselseitigkeit' implizieren ein Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen Produzent und Rezipient, das im folgenden so beschrieben werden kann:in einer einfachen Variante schafft der Autor das Werk, das der Rezipient aufnimmt (verzehrt), komplizierter dagegen: der Autor produziert idealerweise vollkommen unabhängig vom Rezipienten, und der Rezipient fasst das Produkt ebenso unabhängig vom Autor auf. Das Werk ist dabei ein Scharnier, in dem beide sich zu unterschiedlichen Freiheitsgraden treffen. In beiden Fällen ist die Präexistenz des Werkes dabei die unangetastete Grundvoraussetzung. Daher kann Mutualität hier nur eine leere Formel genannt werden, denn die grundsätzlich verschiedene Position von Autor und Rezipient bleibt weiterhin bestehen.

Was wäre, wenn es gar kein vorgängiges Werk gäbe, sondern erst im Zusammentreffen von Produzent und Rezipient geschaffen werden müsste? Dann müssten eventuell beide in Austausch miteinander treten, wie das Werk entstehen könnte. Auch wenn dabei die Gefahr bestünde, dass gar kein Werk enstünde, weil beide sich nicht einigen könnten, tritt hierbei die volle Verantwortung für das Werk auf beide Partner über.

Um zu verstehen, was an diesem Gedanken neu ist, und welche Konsequenzen er bedeutet, möchte ich einige kurze historische Überlegungen anstellen.

Die Literatur hat sicherlich schon sehr früh ein Stadium erreicht Autor und Rezipient gründlich von einander zu trennen. Mit der Verbreitung des mechanischen Buchdrucks trat bereits im 16. Jahrhundert eine ungekannte Anonymisierung des Publikums auf. Bis dahin konnte davon ausgegangen werden, dass Autor und Leser in irgendeiner Form miteinander bekannt waren und in Austausch miteinander treten konnten (lateinsprache), war dialogisch strukturiert. Der nachfolgende shift in der Beziehung zwischen Autor und Leser kann im ehesten mit dem Sprechen vor einem großen Publikum, der öffentlichen Rede also, verglichen werden. In den Flugblättern Luthers, den ersten Massenpublikationen, ist noch das Fernmündliche in großer Reinheit erhalten. Als Konsequenz fand sich der Leser explizit als Leser angesprochen und unter seinesgleichen versammelt. Der Autor trat als Sprecher und Person immer weiter in den Hintergrund zurück. (ähnliches auch im Theater) Hier ist sicherlich die Entstehung der literarischen Salons und literarischen Gesellschaften anzusetzen, als Begründung einer organisierten Leserschaft. Wenngleich im geselligen und konversatorischen Lesen die Geburtsstunde des Lesers als Produzenten angesetzt werden kann, hatte mit der Fortschritt der Vervielfältigungstechnik spätestens im 19. Jhdt. der Literaturbetrieb eine derartige Autonomie und Formalisierung mit sich gebracht, dass mit großer Virulenz die Frage aufkam: Wer liest, wer schreibt eigentlich wen?

Nehmen wir dazu Nietzsche zur Kenntnis:

Wenn ein Ausländer unser Universitätswesen kennenlernen will, so fragt er zuerst mit Nachdruck: Wie hängt bei euch der Student mit der Universität zusammen? Wir antworten: Durch das Ohr, als Hörer. Der Ausländer erstaunt. Nur durch das Ohr? fragt er nochmals. Nur durch das Ohr, antworten wir nochmals. Der Student hört. [...] Sehr häufig schreibt der Student, während er hört. Dies sind die Momente, in denen er an der Nabelschnur der Universität hängt. Er kann sich wählen, was er hören will, er braucht nicht zu glauben, was er hört [...]

Der Lehrer aber spricht zu den hörenden Studenten. Was er sonst denkt und tut, ist durch eine ungeheure Kluft von der Wahrnehmung des Studenten abgeschieden. Häufig liest der Professor, während er spricht. [...] Ein redender Mund und sehr vielen Ohren, mit halbsoviel schreibenden Händen - das ist der äußere akademische Apparat, das ist die in Tätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität. [...] Übrigens kann der eine ungefähr reden, was er will, der andere ungefähr hören, was er will [...] (S.496)

Die Universität, so könnten wir mit Kittler sagen, ist nicht nur ein Hör-Gerät, eine Lese-Hilfe, sie ist auch Schreib-Maschine.

Unbeantwortet bleibt hier die Frage nach der Frage. Der Professor spricht, die Studenten hören, aber fragt niemand nach?

Liest der Autor seine Leser?

In Regel nicht. Nur, wenn sie ihm schreiben, oder Kritiker sind.

Von Rilke ist aus seinen Briefen bekannt, daß er Kritiken oder Studien seiner Werke ausdrücklich nicht zu Kenntnis nahm. Briefe meist junger weiblicher Bewunderer, die auch Rat und Anteilnahme suchten, kühl und geziert antwortend zurückschickte.

Proust dagegen las nicht nur seine Kritiken, er antwortete auch auf die Kritiker und suchte umgehend nach Richtigstellung, wenn er sich falsch verstanden fühlte.

Anders als Rilke hatte er sich auch recht frühzeitig Gedanken gemacht, warum der Autor den Lesern nicht antworten könne. In 'sur la lecture' (1905) heisst es dazu:

Und es ist tatsächlich eine der großen und wunderbaren Eigenschaften der schönen Bücher, daß sie für den Autor 'Schlußfolgerungen', für den Leser jedoch 'Anreize' heißen können. Wir spüren genau, daß unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet, und wir möchten, daß er uns Antworten gibt, wo er uns doch nur Wünsche geben kann. (S.243)

[...] Doch durch ein merkwürdiges und im übrigen vom Schicksal gewolltes Gesetz der Optik des Geistes (ein Gesetz, das vielleicht bedeutet, daß wir die Wahrheit von niemandem erhalten können, daß wir sie selbst schaffen müssen) erscheint uns das Ende ihrer Weisheit nur als Anfang der unserigen, so daß in dem Augenblick, da sie uns alles gesagt haben, was sie uns sagen konnten, in uns das Gefühl entstehen lassen, uns noch gar nichts gesagt zu haben. Wenn wir ihnen im übrigen Fragen stellen, auf die sie nicht antworten können, bitten wir sie auch um Antworten, die uns nichts lehren würden. [...] (S.244)

Hier klingt ein wenig schon der Systemtheoretiker Maturana an, der erklärte, geschlossene Systeme könnten keine Information austauschen, sondern einander nur in Perturbationen versetzen. Die Information prozessiert das System nur in sich selbst und ohne Bezug auf die Umwelt.

Ähnlich Proust:

Solange das Lesen für uns der Initiator ist, dessen Zauberschlüssel uns in der Tiefe unseres Selbst das Tor zu Räumen öffnet, in die wir selbst nicht einzudringen vermocht hätten, ist seine Rolle in unserem Leben heilsam.
Gefährlich wird das Lesen, wenn es, statt uns für das persönliche Leben des Geistes wach zu machen, versucht, sich an dessen Stelle zu setzen; wenn die Wahrheit nicht mehr wie ein Ideal erscheint, das wir nur durch das innere Fortschreiten unseres Denkens [...] verwirklichen können, sondern als etwas Materielles, das auf den Seiten der Bücher abgelagert ist wie ein von anderen fertig zubereiteter Honig, den wir nur aus den Regalen der Bibliothek zu nehmen und dann passiv in vollkommener Ruhe des Körpers und des Geistes zu verzehren brauchen. (S. 249)

Nach Proust kann der Leser nur Leser seiner selbst sein (so am Ende der Recherche). Und der Autor? Ein Optiker, der im Werk dem Leser eine Brille reicht, mit der er sich selbst besser sehen könne.

Vollends kommt diese Position erst in der Postmoderne zum Tragen, in der die Referenzlosigkeit der Zeichen den Leser auf sein eigenes Spiegelbild zurückwirft.

Als ein beliebiges Beispiel Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Leserin, nun wirst du gelesen. Dein Körper wird einer systematischen Lektüre unterzogen, vermittelt durch die Informationskanäle der Tast-, Gesichts- und Geruchssinne, nicht ohne Mitwirkung der Geschmackspapillen [...]
Aber auch du, Leser, bist unterdessen ein Leseobjekt für die Leserin: Bald überfliegt sie deinen Körper wie ein Inhaltsverzeichnis, bald schaut sie irgendwo nach wie erfaßt von einer plötzlichen und präzisen Wißbegier, bald hält sie forschend inne und wartet, daß ihr eine stumme Antwort gegeben werde [...] (S.184)

Die moderne Kunst hat Autonomisierung und Anonymisierung auf einem ähnlichen Grade wie die Literatur erst im 20. Jhdt. erreicht. Die rein hand-werkliche, persönliche Anfertigung des Kunstwerkes hatte noch auf lange Zeit, und eigentlich bis heute andauernd, die Spaltung zwischen Autor und Rezipient verhindert. Denn selbst wenn der Künstler schon lange tot sein mag, tritt dem Betrachter das Kunstwerk als Original entgegen, vermittelt durch die sakrale Aura des Museums oder des Ausstellungsraums. Erst durch die Einführung von Bildmultiplikationstechniken, vorangehend die Photografie, nachfolgend Film und Fernsehen, wurde die Beziehung von Produzent und Rezipient nachhaltig erschüttert. Anders als beim Buch beansprucht die rein technische Komplexität von Film und Fernsehproduktion den Einsatz einer Produktionsmannschaft, also die vollkommene Aufgabe des Einzelautors.

Duchamp erklärte zu Beginn des 20. Jhdts., der Betrachter mache die Kunst. In Wirklichkeit macht das Kollektiv die Kunst.

Was ist aber Kunst?

Hier böte sich an mittels Heideggers 'Was heisst denken?' zu erklären, die Kunst sei das Geheiss der Anderen.

Lässt sich aufgrund des Beschrieben noch weiterhin aufrechterhalten, der Einzelne komme in front of the Kunstwerk wie auch immer zu einer ästhetischen Eingebung, die ihm mitteile, das Dargebotene sei Kunst? Weit eher dürfte es der Fall sein, daß andere an uns herantreten und einen Gegenstand oder ein Ereignis uns als Kunst nahelegen (auffordern ihn als Kunst zu betrachten), worauf dann im Nachhinein unser ästhetisches Reflexionsvermögen einsetzt.

Proust könnte dem durchaus zustimmen, sagte er doch, die soziale Person sei das Produkt der Einbildung der Anderen. Er sagte auch, jedesmal wenn wir auf eine Person träfen, setzte sie sich erst aus unseren Einbildungen neu zusammen. Wenn wir statt Person Kunst einsetzen, erschließt sich ein neuer Raum des Verständnisses des Kunstwerkes. Es nicht a priori und außerhalb von uns vorhanden (eben kein Ding), sondern Wunsch (Proust) oder Geheiss (Heidgger).

Eine Definition von Kunst?

Die Abneigung gegen einen solchen Gedanken kommt vielleicht daher, daß die Idee von Definition zu eng gefaßt wird, als etwas, das einer abschließenden Klärung gleichkomme, nach der man sich (möglichst) schnell anderen Dingen zuwenden wolle.

Wenn ich sage, die alte - sehr verkürzte - Definition von Kunst sei die eines Dikurses über das Werk und die Mittel, die neue hingegen die eines Diskurses über die Mittel (o.d. Werk) und die Kunst, so halte ich damit zwar eine bündige Definition in den Händen, die allerdings ihren Gegenstand nicht abschließt, sondern weiter öffnet. Eine Definition von Kunst zu haben, heisst sich in der Kunst aufzuhalten.

Aber gestern endete die Kunst.

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Ein Beitrag aus:

Mutualität in Netzkunstaffairen: Ein Bericht von Kurd Alsleben und Antje Eske.

Books on Demand Gmbh; Auflage: 1000 (20. September 2004)

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