Medien-ZK / Die Spessartkonferenz
Im März 1995 trafen sich etwa 20 Künstler, Theoretiker, Aktivisten und Intellektuelle im Spessartdorf Kleinkahl-Edelbach, um über die Herausforderungen des Internets zu sprechen. In großem zeitlichen Abstand folgen hier meine Erinnerungen als Teilnehmer der Konferenz.
Organisator der Konferenz war Andreas Kallfelz, Vorsitzender des Frankfurter Kunstvereins 707, der auch den Knoten von The Thing in Frankfurt betrieb. Zu dem Zeitpunkt noch eine Mailbox.
Gastgeber war der Künstler Andreas Rohrbach, der in dem Dorf Kleinkahl-Edelbach im alten Schulhaus lebte. Dort fand die Versammlung statt.
Der Ursprung der Konferenz lag im Umfeld der Feierlichkeiten zum 10 jährigen Bestehen des Kunstvereins 707. Dazu gehörten eine Feierstunde im Portikus (ich nahm daran nicht teil) und ein mehrtägiges Event in einer Privatwohnung in Sachsenhausen.
Ich meine, ich hätte damals Andreas Kallfelz noch zwei weitere Veranstaltungen empfohlen: eine Medienkonferenz an einem abgelegenen ländlichen Ort und eine Skifreizeit irgendwo in den Bergen. Beides als Kontrastprogramm zur eher städtisch, medial geprägten Ausrichtung des Vereins 707.
Die Idee zu einer Medienkonferenz ging wahrscheinlich auf Lenins Zimmerwalder Konferenz (1915) zurück, ein Geheimtreffen außerhalb der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Beschäftigung mit Medien und Internet hatte zu diesem Zeitpunkt (1995) immer noch eine leicht konspirative Note. Daher auch das "ZK" im Namen des Treffens.
Themen
Ich bin nicht mehr sicher, was genau an den drei Tagen genau besprochen wurde. Internet, das meinte um diese Zeit das aufkommenden World Wide Web (WWW). Seit Ende der 1980er Jahre hatte es schon vorausgehendes Internet gegeben. Besonders in Form von Email, Chat und Mailboxen. Das WWW war demgegenüber eine neuere Entwicklung, die sich durch mehrere Eigenschaften von den älteren Internetformaten unterschied. Es handelte sich um statische, öffentlich zugängliche und grafisch orientierte Medien. Ein spezielles und neues Element war der Link, mit dem man von einer zur nächsten Seite springen konnte. Er knüpfte an Konzepte des Hypertextes aus den 1960er Jahren an.
Mehr und mehr Anbieter älterer Internetformate kündigten zu der Zeit an, ihre Angebote auf das neue WWW umzustellen. Wahrscheinlich schon The Thing in New York.
Den Fokus auf Austausch und Interaktion versuchten seit 1994 zwei Modelle in das neue WWW zu bringen, die Digitale Stadt in Amsterdam und die Internationale Stadt in Berlin. In beiden war Stadt die Metapher, User auf einer Weboberfläche zusammen und zum Austausch zu bringen. Wie in der realen Stadt gab es dort öffentliche Plätze, auf denen man sich zwanglos begegnen konnte und private Räume, die nicht allen zugänglich waren. Hier bildete sich die Keimzelle heraus für die spätere Entwicklung zu Sozialen Netzwerken.
Was dann in den drei Tagen konkret zur Sprache kam, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere nur, dass wir über Stunden versuchten, mittels Telefon einen Server in Holland zu erreichen. Da es sich um ein Auslandsgespräch handelte, musste das viel Geld gekostet haben.
Gelegentlich hörte ich auch, die Mailingliste Nettime sei in Folge der Konferenz gegründet worden. Es gab später dazu weitere Konferenzen, an denen ich nicht beteiligt war. Die erste auf der Biennale von Venedig im Juni 1995. Dazu findet sich folgende QUelle auf Nettime selbst (15.1. 1996):
'nettime' was born out of the immediatist 'Medien ZK' gatherings, a series of open, informal international meetings around 'netculture and its discontents' in Spessart, Venice, Budapest, and now Amsterdam.[Quelle]
Teilnehmer
Ich kann nicht mehr genau sagen, wer dabei war. Aus Frankfurt erinnere ich neben Andreas Kallfelz weitere Mitglieder von 707, Verena Kuni, Felicia Herrschaft und Ute Süßbrich. Dazu mein Kollege Oliver Augst. Aus Köln Christoph Blase. Er hatte damals gerade mit seinem Projekt Blitzreview begonnen. Aus Berlin Pit Schultz und Florian Zeyfang (beide in Zusammenhang mit der Internationalen Stadt). Möglicherweise auch Manuel Bonik. Aus Hamburg Hans-Christian Dany. Und aus Amsterdam Geert Lovink, dem schon damals der Ruf eines Internetpapstes zukam. Dass der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath dabei gewesen sein soll, kann ich nicht mehr erinnern.
Anekdotisches
Ich bin am Do., 16.3. mit meinem Kollegen Oliver Augst von Partenstein am Main im dichtesten Schneetreiben durch den Wald nach Kleinkahl-Edelbach gelaufen. Wir kamen am Abend bei Andreas Rohrbach an. Wir sind auch am Sonntag (19.3.) zu Fuß abgelaufen, über mehrere Berge des Spessarts nach Bad Orb.
Aufgrund der großen Teilnehmerzahl konnten nicht alle im alten Schulhaus übernachten. Ein Teil war in einer nahegelegenen Pension untergebracht, wo es recht einfach zuging.
Die abgelegene Lage des Tagungsortes hinderte nicht, die nähere Umgebung zu erkunden. Ich erinnere noch einen Ausflug, wahrscheinlich am Samstagabend, ins nahegelegene Schöllkrippen, wo wir eine Großraumdisko besuchten. Sie befand sich, meine ich, oberhalb eines Supermarktes im Dachgeschoß. Der Besuch dort endete jäh, als einige von uns mit der Dorfjugend aneinandergerieten. Der Vorwurf, wir hätten „ihre Frauen angemacht“. Eiliger Abzug, da wir keinen Konflikt wollten.
Folgen
Wie schon auf der Konferenz bedacht, fand das WWW in den nächsten beiden Jahren großen Zulauf, kam endlich auch in der allgemeinen Öffentlichkeit an. Mailboxen, Chats und Relays wurden nach und nach abgeschaltet. Für die Teilnehmer der Konferenz und die weitere Medien- und Netzkunstszene bedeutete das zunächst eine Verlust an Austauschmöglichkeiten. Bis sich neue Formate ankündigten, zunächst in Webforen, später dann in Sozialen Medien.
Trotz mancher Absichten und Wünsche, kam es in dieser Form nie wieder zu einem weiteren Folgetreffen auf die Spessartkonferenz.
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